Hermann Wohlgschaft

Claus Roxin – 75 Jahre

  
Am 15. Mai 2006 feiert Herr Professor Dr. Dr. h. c. mult. Claus Roxin seinen 75. Geburtstag. Bei aller Präsenz in der Gegenwart und bei aller Aktivität im Blick auf das Künftige darf Professor Roxin zurückschauen auf eine großartige Lebensgeschichte, die überreich ist an Erfolg und an – bayerischen, deutschen, europäischen, überseeischen – Ehrungen.

Spätestens in den 1970er Jahren, in der Fernsehreihe ›Wie würden Sie entscheiden?‹, wurde Claus Roxin populär. Einige Daten zur Vita: Im Juli 1962 konnte sich der promovierte Jurist in seiner Heimatstadt Hamburg, im Alter von erst 31 Jahren, habilitieren. Und schon ein Jahr später wurde er Ordinarius für Strafrecht, Strafprozessrecht und allgemeine Rechtslehre an der Universität Göttingen. Von 1971 bis 1999 lehrte er als Ordinarius an der Ludwig-Maximilians-Universität München und übernahm zusätzlich, seit 1974, die Aufgabe des geschäftsführenden Direktors des Instituts für die gesamten Strafrechtswissenschaften.

Mit 32 Jahren ordentlicher Professor an einer renommierten Hochschule! Eine ähnliche wissenschaftliche Karriere machten – in ›meiner‹ Fakultät – der weltweit bekannte Theologe Hans Küng, der mit 32 Jahren Ordinarius an der Universität Tübingen wurde, und der fast noch berühmtere Professor Dr. Joseph Ratzinger (Benedikt XVI.), der ebenfalls mit 32 Jahren, an der Universität Bonn, zum Ordinarius avancierte.

Als ich mich vor Jahrzehnten, zu dieser Zeit noch Studentenpfarrer in Augsburg, erstmals nach Professor Roxin erkundigte, gab mir ein Jura-Student die Auskunft: Claus Roxin ist bei Juristen ungefähr das, was Küng oder Ratzinger bei den Theologen ist: eine unbestrittene Größe, eine gefeierte Autorität.

Roxin hatte immensen Erfolg. Seine Schüler dozieren heute in fast allen Teilen der Welt – während der ›Meister‹ mit vierzehn Ehrendoktortiteln dekoriert wurde, unter anderem durch die Universitäten von Madrid, Barcelona, Athen, Mailand, Lissabon und Granada sowie einer stattlichen Reihe von Universitäten in Mexiko und Südamerika. Die Leistung, das Lebenswerk Professor Roxins fand außerdem Anerkennung durch die Verleihung des Verdienstkreuzes 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland und durch die Auszeichnung mit vielen weiteren (deutschen wie ausländischen) Ehrenkreuzen und Verdienstmedaillen.

Wie seine Altersgenossen Ratzinger und Küng ist Roxin ein sehr einflussreicher Global player. Seine juristischen Standardwerke, unter anderem Strafrecht Allgemeiner Teil (Band I, 2006 in 4. Auflage erschienen; Band II, 2003 in 1. Auflage erschienen), ›Strafver-fahrensrecht‹ (1998 in 25. Auflage) sowie die Habilitationsschrift Täterschaft und Tatherr-schaft (2006 in 8. Auflage) wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. So wurde zum Beispiel Band I von Strafrecht Allgemeiner Teil im Jahre 2005 in Peking auf Chinesisch publiziert; an Band II wird derzeit in Peking gearbeitet. Wenn das nicht etwas Besonderes ist!

Nicht nur früher, im Auditorium maximum der Ludwig-Maximilians-Universität München, auch heutzutage hält Claus Roxin seine Vorträge und fasziniert seine Hörerinnen und Hörer in aller Welt – sei es in Spanien oder in den verschiedensten Ländern Amerikas. Und so geht es nun weiter: In jüngster Zeit erst wurde Roxin, für September 2006, nach China eingeladen, wo er Vorträge in Shenzhen und Peking halten soll.

Äußerst vielseitig ist Professor Roxin. Auch in literarischen Dingen ist er ein exzellenter Kenner und Interpret. Zu den Dichtern, die er vorzugsweise liest, zählen Goethe, Heinrich Heine, Theodor Fontane und Thomas Mann. In der ›May-Szene‹ ist Roxin bekannt als langjähriger Vorsitzender der Karl-May-Gesellschaft (1971–1999, seither Ehrenvorsitzender), als Präsident des Kuratoriums der Karl-May-Stiftung (seit Dezember 2000), als Verfasser von grundlegenden Beiträgen zur Karl-May-Forschung.

Glänzend geschriebene Essays – wie Vorläufige Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays (1971), »Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand«. Zum Bild Karl Mays in der Epoche seiner späten Reiseerzählungen (1974) oder Karl May, das Strafrecht und die Literatur (1977) – gehören zu den Leseerlebnissen, die ich nie vergessen werde und die mich dazu angeregt haben, auch meinerseits über Karl May zu schreiben.

Sich ernsthaft mit dem Schriftsteller Karl May zu befassen und sich zu dieser ›Leidenschaft‹ ohne Vorbehalt zu bekennen, erfordert schon Mut. Denn lange Zeit wurde May nur gering geschätzt und belächelt. Der ›Große Vorsitzende‹ freilich hat, wie kaum ein anderer, das Ansehen Karl Mays in der Öffentlichkeit gefördert. Als sprachmächtiger Autor und brillanter Redner verstand es Roxin, der literarischen Welt den hohen Rang speziell des Mayschen Alterswerks zu vermitteln. Und innerhalb der Karl-May-Gesellschaft gelang es ihm in einmaliger Weise, die Vertreter sehr unterschiedlicher Forschungs- und Denkrichtungen zu integrieren und miteinander ins Gespräch zu bringen.

Mit sehr vielen Mitgliedern der Karl-May-Gesellschaft steht Claus Roxin noch heute im persönlichen Kontakt. Am 14. Mai 1987 hatte ich mich zum ersten Mal brieflich an Professor Roxin gewandt: mit der Anfrage, ob mein vorläufiges Typoskript zu Mays Roman Am Jenseits im Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft publiziert werden könne. Schon am 18. Mai 1987 kam – in einem längeren Brief mit sehr schöner Handschrift – die zustimmende Antwort.

In den folgenden Jahren bis Anfang 2006 fanden sich insgesamt 126, zum Teil drei- oder vierseitige, Briefe aus der Feder Roxins bei mir ein. Jeder dieser Briefe (die ich sorgfältig aufbewahre) enthält – neben persönlichen Mitteilungen – eine Fülle von detaillierten Anregungen, die meinen späteren Beiträgen zur May-Forschung bzw. May-Deutung sehr zustatten kamen. Da ich gewiss nicht der einzige bin, mit dem Roxin so eingehend korrespondiert, steht fest: Dieser weitgereiste und vielbeschäftigte Mann findet nebenher noch genügend Energie für eine zwischenmenschliche Kommunikation, die ihresgleichen sucht.

Mit einem Wort, Claus Roxin ist eine charismatische Persönlichkeit. Er zeichnet sich, unter anderem, aus durch Gelassenheit und souveränen Humor. Zudem hat er uns May-Freunden bewiesen: Menschliche Größe erweist sich nicht nur in messbarer Leistung, nicht nur in Kreativität und wissenschaftlicher Kompetenz, nicht nur in Führung und Management, auch nicht nur in kooperativem Verhalten und in der Wertschätzung anderer Leute. Wahre Größe zeigt sich auch, und vielleicht noch mehr, im Umgang mit Schicksalsschlägen, mit Trauer und schwerem Leid.

Durch die Tsunami-Katastrophe in Thailand fanden die Enkelsöhne Roxins, Nico (3 ½ Jahre) und Linus (1 ½ Jahre), am zweiten Weihnachtstag 2004 den Tod. Für Claus Roxin, dem seine Familie immer sehr wichtig war und der seine Kinder und Enkelkinder sehr liebt, war – und ist – dieser Tod ein schreckliches Unglück, ein Verhängnis, das nicht zu beschreiben ist. Gleichwohl hat Professor Roxin, in ungebrochener Seelenstärke, seiner Familie Rückhalt gegeben und alles unternommen, was möglich war, um das Schicksal der – lange verschollenen – Kinder zu klären und den Eltern beizustehen.

Claus Roxin, der inspirierte Denker, der überragende Vorsitzende, ist für mich ein bewegendes Beispiel: Was zählt, was – wenn ich es einmal so sagen darf – Gewicht hat vor Gott, sind nicht nur die Werke, sondern viel mehr noch das Sein. Bekanntlich unterschied der Sozialpsychologe Erich Fromm den Modus des ›Habens‹ vom Modus des ›Seins‹. So gesehen meine ich: Claus Roxin hat nicht nur viele Doktortitel, und er hat nicht nur viel geleistet, er ist eine mitreißende Persönlichkeit, er ist ein großer Gelehrter und, weit darüber hinaus, ein bewunderungs- und liebenswürdiger Mensch.

Lieber Herr Professor Roxin! Auch im Namen der neuen ›Arbeits- und Forschungsgemeinschaft Beobachter an der Elbe‹ gratuliere ich Ihnen zum ›runden‹ Geburtstag aufs herzlichste. Was ich Ihnen wünsche: zunächst einmal gute Gesundheit, ad multos annos, gewiss. Aber mehr noch wünsche ich Ihnen: dass Sie auch künftig das werden, was Sie im Grunde schon sind. »Das eigene Wesen«, so formulierte es der englische Schriftsteller Oscar Wilde, »völlig zur Entfaltung zu bringen, das ist unsere Bestimmung.« Zum endgültigen Erreichen dieses höchsten Zieles wünsche ich Ihnen – wie Ihrer Frau und Ihrer Familie – weiterhin den Elan und den göttlichen Segen.

Hermann Wohlgschaft 


Erich Heinemann zum 70. Geburtstag von Claus Roxin